Debatte über Weltformel - Warum wir niemals alles wissen werden

Die Wissenschaft hat den Ursprung des Universums entdeckt, komplexe Phänomene wie die Krümmung der Raumzeit beobachtet - aber sie wird nie eine Weltformel finden, die alles erklärt. Schon eine winzige Schneeflocke ist zu diffizil dafür.

Wir alle glauben an irgendetwas, und die Wissenschaft selbst basiert auf einer ganzen Reihe von Überzeugungen, vor allen Dingen auf der, dass die Welt verständlich ist und dass wir mit unserem Einfallsreichtum und der Erfindung immer feinerer Geräte am Ende alles wissen werden.

Doch ist das All überhaupt bis ins Innerste erkennbar? Ich glaube, kann aber nicht beweisen, dass es immer Dinge geben wird, die wir nicht wissen – Kleines, Großes, Interessantes, auch Wichtiges.

Wenn die theoretische Physik als Richtschnur gelten kann, so dürfen wir annehmen, dass sich die Wissenschaft an einem festen Ziel orientiert. Seit einigen Jahrzehnten suchen theoretische Physiker nach einer sogenannten Theorie von Allem (Weltformel) – die der Nobelpreisträger Steven Weinberg als "endgültige Theorie" bezeichnet hat. Diese ultimative Ansammlung von Gleichungen würde die heute unter Physikern anerkannten Grundkräfte Gravitation, Elektromagnetismus und Kernkraft miteinander verbinden. Doch eine solche Theorie würde, auch wenn wir sie aus den heutigen Modellen ableiten könnten, nichts darüber besagen, wie sich Proteine bilden oder wie die DNA entstand. Noch weniger würde sie die Geschäftigkeit einer lebenden Zelle oder die Wirkungsweise des menschlichen Geistes beleuchten. Eine Theorie von Allem würde nicht einmal erklären, wie Schneeflocken zustande kommen.

In einem Zeitalter, in dem wir den Ursprung des Universums entdeckt und die Krümmung der Raumzeit beobachtet haben, mag es ernüchternd wirken, dass Wissenschaftler nicht einmal in der Lage sind, etwas scheinbar so Banales wie die Bildung von Eiskristallen zu erklären, doch genau so verhält es sich. Der Caltech-Physiker Kenneth Libbrecht ist ein weltweit anerkannter Fachmann auf diesem Gebiet und betreibe sein Projekt seit rund zwanzig Jahren genau deshalb: "Auf diesem Planeten leben sechs Milliarden Menschen, und ich dachte, wenigstens einer von uns sollte wissen, wie sich Schneekristalle bilden."

Nach zahlreichen Experimenten in speziell aufgebauten Druckkammern meint Libbrecht jetzt besser zu verstehen, wie Eis am Rand der alle Eisstrukturen umgebenden quasi flüssigen Schicht kristallisiert. Seiner Theorie hat er den Namen "strukturabhängige Bindungskinetik" gegeben, betont indes, noch weit von der endgültigen Lösung entfernt zu sein. Der Übergang von Wasser zu Eis ist ein unglaublich komplexer Prozess, an dem sich schon so brillante Denker wie Johannes Kepler und Michael Faraday versucht haben. Libbrecht hofft, dass ihm der nächste kleine Schritt zum Verständnis der wunderbaren Substanz gelingen wird, die für das Leben selbst eine zentrale Rolle spielt.

Daneben gehört Libbrecht zum Kreis der Physiker, die am Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory (LIGO) arbeiten, um die mutmaßlich von Schwarzen Löchern und anderen kosmischen Massen abgestrahlten Gravitationswellen aufzuspüren. Physiker glauben deshalb an die Existenz solcher Wellen, weil sie aus der Allgemeinen Relativitätstheorie folgt. Damit hat ihr Glaube eine Investition von einer halben Milliarde Dollar begründet. Eine erfolgreiche Theorie von Allem wird die Gravitation erklären müssen, die sich ebenso wie die drei anderen Kräfte letzten Endes sowohl in Wellen- als auch in Teilchenform manifestieren müsste. LIGO soll nun den Wellenaspekt dieser äußerst rätselhaften Kraft nachweisen, sofern es sie wirklich gibt.

Vor einigen Jahren stellte der Fachjournalist John Horgan die provokative These auf, dass die Wissenschaft sich ihrem Ende nähere, da alle großen Theoriebauwerke stünden. In gewissem Sinne traf das zu, denn die Hochenergiephysik könnte tatsächlich bald ihre endgültige Einheit erreichen. Doch in so vielen anderen Gebieten findet die Wissenschaft gerade erst ihren Weg.

Zum Beispiel schafft sie heute erst die nötigen Instrumente und Techniken, um zu erforschen, wie unsere Atmosphäre und wie Ökosysteme funktionieren, wie Gene Proteine erzeugen, wie sich Zellen entwickeln und wie das Gehirn arbeitet. Zwar hat einerseits gerade der Erfolg der "Grundlagenforschung" Türen aufgestoßen, die früheren Generationen verschlossen blieben – doch andererseits scheint es heute mehr denn je zu geben, was wir nicht wissen. Zu einer Zeit, in der Physikmagazine am laufenden Band Theorien darüber veröffentlichen, wie man ganze Universen im Labor erzeugen kann, entsteht nur zu leicht der Anschein, die Wissenschaft sei bereits im Besitz der Wahrheit. Doch in Wirklichkeit wissen wir fast nichts – und ich glaube, dies wird immer so bleiben.

Kurz vor dem Aufblühen der wissenschaftlichen Revolution plädierte Kardinal Nikolaus von Kues, der große frühe Fürsprecher einer mathematisch orientierten Naturwissenschaft, für die von ihm so bezeichnete "gelehrte Unwissenheit", also nicht Allwissenheit, sondern ein immer mehr verfeinertes, einsichtsvolles Nichtwissen. Die schlichten Schneeflocken Ken Libbrechts eignen sich als Metapher für diese anregende Sichtweise: Zwar schmelzen sie auf der Zunge, aber jedes winzige Eiskristall umfasst ein Universum, dessen Grundregeln wir gerade erst zu verstehen beginnen.

Quelle: SPIEGEL ONLINE

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Autorin: Margaret Wertheim, eine international renommierte Wissenschaftsjournalistin und Zeitzeugin, schreibt Beiträge für Magazine, Rundfunk und Fernsehen. Nach ihren Veröffentlichungen "Die Hosen des Pythagoras. Physik, Gott und die Frauen" sowie "Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet" arbeitet sie derzeit an einem Buch über die Rolle der Fantasie in der theoretischen Physik.

News by Luca Rocchi and Marc Büchel - German Translation by Paul Görnhardt - Italian Translation by Francesco Daghini


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